Rezension: Carsten Prien: Dutschkismus, OUSIA-Verlag, Seedorf 2015
Mit spitzen Fingern fasste ich den Text an. Ein Wortungeheuer überfiel mich und wollte mir einreden, dass auch Dutschke im Käfig eines „Ismus“ sass. Günter Bartsch hatte den gehässigen Einfall. Carsten Prien entwarf daraus ein vielseitiges Portrait. Die Lektüre begeisterte mich. Ich fand den Faden wieder, den ich beim Theoretiker Rudi Dutschke längst verloren hatte. Ich hatte mich geistig im Herbst 1967 von ihm getrennt. Auf einem Kongress sozialistischer Studenten hatte er zusammen mit Hansjürgen Krahl ein „Organisationsreferat“ entworfen. Eine Radikalopposition sollte sich davor hüten, in die Bahnen des Parlamentarismus und der Parteihierarchien zu treten. Der freie Willen der Akteure sollte dem Lebens- und Freiheitsprinzip entsprechen. Ein paar Tage später erklärte er mir, dass er mit Frau und Kind in die USA auswandern wollen. Er beging nach meiner Überzeugung „Fahnenflucht“ und drückte sich vor der Verantwortung, eine derartige Opposition der „Basisgruppen“, „Kommunen“ und „Initiativen“ zu gestalten. Beim Vietnamkongress nahm er die ost- und westdeutschen Kommunisten ins Boot und parodierte dadurch die Vision eines antibürokratischen Widerstands. Ich konnte ihn nicht mehr ernst nehmen. Erst das Attentat auf ihn im Frühjahr 1968 zeigte mir, dass er sich in Todesgefahr befunden hatte. Ich versöhnte mich mit ihm gedanklich in den Osterunruhen des gleichen Jahres.
In der Zeit danach kämpfte er um seine Würde und sein Selbstbewusstsein. Er war erfüllt von Mistrauen gegen sich selbst und gegen seine alten Freunde. Er war erfasst von der Angst, nicht genesen zu können und den Verstand zu verlieren. Die epileptischen Anfälle quälten ihn. Er wollte dem Spott begegnen, der ihn traf und er wollte beweisen, dass er auf der „Höhe der Zeit“ stand und anschliessen konnte an das theoretische Niveau seiner frühen Jahre. Für mich bestand seine Leninkritik, die als Dissertation 1974 an der Freien Universität angenommen wurde, aus den verschiedenen Entwürfen und Aufsätzen, die er vor 1968 verfasst hatte und die er nun neu interpretierte. Wir hatten gemeinsam Seminare bei den Professoren Werner Philipp, Otto Stammer, Hansjoachim Lieber, Klaus Meschkat, Helmut Fleischer, Peter Furth, Helmut Bütow u. a. absolviert und uns mit Rudolf Hilferding, Karl Korsch, Karl Kautsky, G. Plechanov, W. I. Lenin, Leo Trotzki, J. W. Stalin, Georg Lukacs, Petr Tkachev und Michail Bakunin befasst, um nur die wichtigen Namen und Seminararbeiten zu benennen. Sehr früh gab es zwischen uns einen Disput über die Formen des Kriegskommunismus und der „permanenten Revolution“ in Russland.
Ich bezog mich auf Tkachev und Lenin, die für Russland einen Kriegskommunismus einklagten, der die Errungenschaften der technologischen und industriellen Revolution des Westens übertragen sollte. Eine Diktatur der „Technokraten“ sollte die Übersetzungsarbeit leisten, um vom „Gebrauchswert“, von der technologischen Substanz her die kapitalistischen Umwege und Krisen zu vermeiden. In kurzer Frist sollte diese „Diktatur“ aufsteigen in die Produktivkraft der automatischen „Werkzeugmaschine“. Schon damals wurde daran gedacht, den Kapitalismus zu überholen, ohne sich ihm anzupassen. Die „permanente Revolution“ sollte den Weg nach Westeuropa öffnen. Die Rote Armee scheiterte vor Warschau 1920. Ab 1923 wurde der Traum aufgegeben, über Aufstände und Revolten in Zentraleuropa eine internationale Revolution anzustossen. In Rapallo wurde im gleichen Jahr ein Geheimvertrag mit der Reichswehr und der deutschen Rüstungsindustrie abgeschlossen. Die neuste Waffentechnologie, Geschütze, Panzer, Raketen, Flugzeuge, wurden mit Unterstützung der deutschen Industrie ausserhalb der „Versailler Kontrollen“ in Russland hergestellt und ausprobiert. Deutsche Ingenieure, Offiziere und Arbeiter lernten die russischen Fachkräfte an. Fachschulen und Akademien erweiterten dieses Wissen. J. W. Stalin wandte sich nun gegen das Experiment der „permanenten Revolution“, das die Gefahren eines II. Weltkrieges enthielt.
Die Diktatur des Kriegskommunismus besass eine traditionelle Ausrichtung hin zum „Völkergefängnis“ des Zarismus und die technologische Perspektive im Sinne von Charles Fourier, die technologische Produktivkraft aufzunehmen und auszubauen. Ich setzte auf den Erfolg der „russischen Technologie“ und der Industriespionage. Dutschke bezog sich in seiner Gleichsetzung von „asiatischer Despotie“ und Kriegskommunismus auf Karl August Wittfogel und teilweise auf die Russlandschriften von Karl Marx und Friedrich Engels. Ich interpretierte den Staatsbegriff aus der Marxschrift über die „Geheimdiplomatie im 18. Jahrhundert“ und aus der Analyse von Max Horkheimer über den „autoritären Staat“. Für Marx und Horkheimer enthielt die „Staatlichkeit“ des Staates in Russland und USA die internationalen Potenzen des modernen Krieges, der Waffentechnik, der Armee, der Propaganda und der Sicherheitsdienste. In Russland gehörte der Kapitalismus solange zum „Überbau“, solange nicht durch die Militarisierung der Gesellschaft die Disziplin und das Fachwissen der kapitalistischen Arbeitsteilung von den sozialen Schichten aufgenommen wurden.
Der Staat sorgte über die Armee, Staats- oder Treuhandbetriebe und über die Naturwissenschaft dafür, die industriellen Produktivkräfte der Welt zu übersetzen. Genauso lernten die USA von den archaischen Formen von Diktatur, vom Kriegskommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus, um den Sicherheitsapparat auszubauen und die Kosten von Terror und Zwangsarbeit zu vermeiden. Für Marx blieben die Kapitalisierung und Industrialisierung Überbauphänomene, solange bis das Volk im industriellen Sinn umerzogen war. Der russische Staat entsprach nicht einer stagnativen, asiatischen Gesellschaft. Er eröffnete über eine Diktatur die Dynamik sozialer, kultureller und technologischer Umbrüche. Kontrollierte „Klassenkämpfe“, „Säuberungen“ und Zwangsarbeit sollten diese „Transformationen“ regeln. Die USA waren ebenso gezwugen, die Einheit einer Gesellschaft über den Militär- und Sicherheitsstaat herzustellen. Arbeitslosigkeit, Einwanderung, Rassismus, Korruption, Finanzspekulationen, Konsumprasserei, Bürgerkrieg und Krieg bedrohten die soziale Homogenität und den politischen Anspruch von Freiheit und Demokratie. Diese Grossmacht musste nach Aussen expandieren, sich auf Interventionskriege einlassen, um als Staat und Wirtschaft überleben zu können. Marx und Horkheimer reaktivierten den Hegel’schen Staats- und Rechtsbegriff. Der „Weltgeist“ wurde als Träger der technologischen und sozialen Revolutionen aufgenommen und in die Staatlichkeit eingefügt. Deshalb warnte der Hegelianer Michail Bakunin vor der Neudefinition des Staates im „Volksstaat“ in der I. Internationale, um dieser skizzierten „Staatslogik“ von Herrschaft und Unterdrückung zu entgehen.
Dutschke liess sich von Günter Berkhahn Mitte der siebziger Jahre überzeugen, dass der Zwangsapparat eines Staates, der einen „Kontinent“ über Geheimpolizei und Armee regeln und verteidigen musste, nicht vergleichbar war mit einer „asiatischen Despotie“, die die Masse der Bauern und des Adels zwingen musste, Staudämme zu errichten, um Naturkatastrophen und Überschwemmungen zu vermeiden. Die zentraleuropäische russische Macht „verstaatlichte“ den Dienstadel und die Bauernschaft und zwang die Bauernjugend in eine gigantische Armee, die im Bündnis mit England die europäischen Revolutionen zermalmen sollte. Bauernaufstände, die den russischen Alltag bestimmten, wurden niedergeschlagen. Die „Bauernfreiheit“ verlor die Kraft, den Zarismus aufzusrengen. Eine „bürgerliche Gesellschaft“ wurde am Hof des Zaren und in den Salons der Grossfürsten zelebriert. Der Kapitalismus war eine Angelegenheit der Staatspolitik und der internationalen Verträge.
Napoleon marschierte bis Moskau, um diesen „Hort der europäischen Reaktion“ zu zerschlagen. Er scheiterte. Russische Truppen gelangten mit ihren deutschen Verbündeten bis Paris. Armee und Bewaffnung mussten als die Grundlagen eines Staatsaufbaus angesehen werden, der den Zwang kombinierte mit einer modernen Aufrüstung. Die Staatlichkeit trug die Last Asiens, kannte die Zwangsarbeit, die Bindung der Bauern an den Boden, die sibirischen Lager und die Kulte der russisch orthodoxen Kirche, die das Leben erfüllten und „kollektivierten“. Veränderungen wurden durch Kriege und Aufstände angestossen und sie konzentrierten sich auf die Armee, die Russland schützen musste. Der moderne Krieg liess sich nicht über Waffenimporte aus dem „Westen“ meistern. Er benötigte russische Manufakturen und die Anfänge einer Industrialisierung. Russland konnte sich die asiatische Stagnation und die Lethargie leibeigener Bauern nicht leisten.
Mit Dutschke stimmte ich in der nationalen Frage und in der Einschätzung der östlichen und westlichen Grossmächte überein. Das „nationale Erbe“ als Wirtschaft, Kultur, Stadtrecht, Religion, Wissenschaft, Staat, Freiheits- und Sozialrechte, Reform, Sprache, Krieg, Geschichte, Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus prägte ein Volk und schuf eine „Nation“. Die „späte deutsche Einheit“ von 1871 zeugte vom Kampf der deutschen Revolutionäre und Staaten gegen die Ansprüche der damaligen Grossmächte, die deutschen Lande zu besetzen und zu spalten. Die Spaltung Deutschlands nach 1945 als Folge der „bedingunglosen Kapitulation“ und der Absprachen der neuen Grossmächte würde aufgehoben werden, wenn diese Mächte auf die Okkupation verzichteten. Der theoretische Bezug auf die „Nation“ pochte auf die Souveränität eines Volkes und auf die „nationale Befreiung“ von Fremdeinflüssen auf Staat und Politik. BRD und DDR besassen nach unserer Überzeugung keine selbständige, politische Entscheidungskraft. Wir orientierten uns an den nationalen Befreiungskämpfen in Vietnam und Algerien. Wir lasen Ho Tschi Minh und Franz Fanon und wir waren beeindruckt von Friedrich Engels.
Der russishe Kriegskommunismus war als zentrale Plan- und Befehlswirtschaft reformunfähig und würde durch Volksaufstände auseinandergerissen werden. Die USA würden an Aufständen, Religionskriegen und an einem Kampf der Kulturen scheitern. Die weisse Mittelschicht würde durch die farbigen Völker und Kulturen überrannt werden. Der Zusammenbruch dieser Mächte eröffnete für Zentraleuropa revolutionäre Situationen. Eine deutsche Revolution würde die nationalen Ziele von Befreiung und Widerstand aufweisen und darüber hinausgehen. Die antiautoritären Vorkämpfer und die „Erniedrigten und Beleidigten“ würden auf die Perspektiven einer freien und emanzipativen Gesellschaft weisen.
Carsten Prien hat eine umfassende und wahrscheinlich endgültige Literaturliste der Schriften von Dutschke zusammengetragen. Er unterteilt die Bibliographie in Aufsätze, Redebeiträge, Interviews und Bücher ein. Die Rundfunkbeiträge, Audio- und Videodokumente werden vollständig erfasst. Die Sammelbände werden gesondert aufgeführt. Der Briefwechsel wird aufgelistet und weitere Bücher mit wichtigen Texten von Dutschke genannt. In den unzähligen Fussnoten werden alle diese Dokumente ausgeschöpft. Dadurch entsteht der Eindruck, dass ein genialer Denker alle die Thesen und Theorien erfunden und in die Welt gerufen hatte. Die Einflüsse, denen Dutschke ausgesetzt war, werden zwar beachtet, erhalten jedoch den Zuschnitt der Ausnahme oder der Belanglosigkeit.
Der „Dutschkismus“ entsteht nach Prien aus dem Scheitern des Marxismus. In Russland und in Osteuropa wurde er verformt in eine politische Religion der „allgemeinen Staatssklaverei“. In Westeuropa und in den USA verlor die marxistische Theorie das Subjekt, das die historische Mission der Befreiung und sozialen Emanzipation erfüllen konnte. Die Theorie wurde nach Ernst Bloch in die Unkenntlichkeit zerschreddert und diente als Zitatenschatz für skurillen Spinner und Sektierer. Der Marxismus gab die Stärke der sozialen Kritik auf. Erst Dutschke machte ihn erneut zur Grundlage einer Revolutionstheorie, die die konkrete Situation aufnahm und zugleich die „Negation der Negation“ in der nach- bzw. spätkapitalistischen Gesellschaft benannte. Diese Sichtweise will Carsten Prien beweisen.
Die vielen Biographien und Schriften über Rudi Dutschke sind nach seiner Überzeugung zeitgebunden und verfolgen nicht selten ideologische Absichten. Sie achten nicht auf die philosophische Mühe, die Dutschke auf sich nahm, in der Kritik des Leninismus/Bolschewismus zugleich den Marxismus als Wissenschaft und Weltanschuung umzuwälzen. Die einzelnen Schriften verlieren sich in den Ereignissen der sechziger und siebziger Jahre oder sie spitzen zu, indem sie Dutschke zum ideellen Gründer der RAF machen oder zum Vokämpfer einer „grünen Idee“. Diese „Ideologisierung“ Dutschkes verschüttete bewusst den ursprünglichen revolutionstheoretischen Ansatz, die „Befreiung“ von der geschichtlichen Selbstentfremdung und von der Instrumentalisierung des Individuums in der kapitalistischen Konsumprasserei zu benennen.
Dutschke entfaltete eine „Bewusstseinsstrategie“, die Übermacht von Politik, Staat, Beruf und Lebensstil, die kapitalistisch geprägte Charaktermaske, langfristig aufzulösen. Zu einer „kollektiven Individualität“ soll zurückgefunden werden. Prien unterschlägt bei der Vorlage komplizierter Gedankenbilder die Akteure, die den „Situationisten“ Dutschke und Übersetzer einer „konkreten Dialektik“ beeindruckten und motivierten: Dieter Kunzelmann und Herbert Marcuse. Kunzelmann, ein Kampfgefährte von Dutschke, wirkte als Aktionskünstler. Der Übermacht des Polizei- und Sicherheitsapparates begegnete er durch „Provokation“. Er zwang diese Apparate, ihre Macht, ihre Einfalt und ihre diktatorischen Ambitionen offenzulegen. Die Aktionen beim „Puddingattentat“ auf den amerikanischen Vizepräsidenten, die „Spaziergangsdemonstration“ vor dem Cafe Kranzler, der „2. Juni“, die öffentliche „Verbrennung von Strafakten“ an der FU bewiesen, dass Unruhestörer den Gewaltapparat des Staates herausfordern konnten und dieser die latente Diktatur in der westlichen Demokratie demonstrierte. Alle spielten mit. Politiker, Polizei, Justiz, Medien, Publikum und die Provokateure gaben ihr „Bestes“. Dutschke übernahm diese Lehren. Die Linke durfte keinerlei Gewalt anwenden oder sich gegen diese Apparate militärisch formieren. Sie musste diese provozieren und sie veranlassen, die „Wirklichkeit“ der Gewaltverhältnisse zu aufzuzeigen. Alle Beteiligten würden daraus ihre Lehren ziehen. Eine „Bewusstseinsstrategie“ zeigte dem einzelnen Demonstranten die „Lage“, in der er sich befand.
Herbert Marcuse hatte die Umrisse des „westlichen Marxismus“ skizziert, indem er die Frühschriften von Marx und hier besonders die „ökonomisch philosophischen Manuskripte“ mit der Psychoanalyse von Sigmund Freud und mit der Seinsphilosophie von Martin Heidegger verband. Die Botschaft wurde verstanden. Die soziale Emanzipation musste auf der individuellen Befreiung von allen Zwängen der Erziehung, der Familie, der Autorität, der Kapitalverhältnisse und der Staatsgewalt aufbauen. Die Würde des einzelnen Menschen war unantastbar. Er durfte nicht in Rollen, Masken, Funktionen, Verhaltensweisen gezwungen werden, die seiner Individualität widersprachen.
Marcuse formulierte sogar ein „Widerstandsrecht“, das den Einzelnen befähigen sollte, aufzubegehren gegen die allgemeine Lüge, gegen die Propaganda, gegen Krieg, Rassismus und Tyrannei. Niemand durfte sich im Medienbild, im inszenierten Helden, im Konsumideal oder im Warenfetisch verlieren. Jeder sollte darauf pochen, er selbst zu sein. Aus dieser freien Individualität entwickelte sich im Widerstand und in der Tat das „kollektive Ich“. Marcuse verwies darauf, dass der idealistische Marx, die russischen Menschewiki um Georgij Plechanov, die westeuropäischen Rätekommunisten, Syndikalisten und Freidenker einen westlichen Marxismus begründeten. Er wandte sich gegen jede Organisationsform, die lediglich den Polizeiapparat, die Mafia, das Militär oder den hierarchischen Betrieb fortschrieb. Eine Organisation der freien Initiativen, der Freiheits- und Sozialrechte würde die blosse Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse subversiv unterlaufen. Bolschwismus und Sozialdemokratie bildeten den Spiegel der kapitalistischen Mehrwertproduktion.
Marcuse konnte den „jungen Marx“ in die „Dialektik des Widerstands“ einbeziehen, denn die Marxforscher, Rudolf Hilferding, Rosa Luxemburg, David Rjazanov, Karl Korsch, Ernst Bloch, Roman Rosdolsky, Auguste Cornu, Jürgen Kuszinski u. a. hatten Marx aus der Ideologie des sozialdemokratischen „Sozialdarwinismus“ und des kommunistischen „Diamat“ herausgelöst. Sein Gesamtwerk, nicht primär der dialektische Aufbau der Theorie, wurde konfrontiert mit der Realität des Kapitalismus und der Experimente des Kriegskommunismus. Der Marxismus entpuppte sich als Kritik der politischen Ökonomie und als Theorie der sozialen Emanzipation. Der subversive Denker David Rjazanov hatte die Frühschriften von Marx für die MEGA ediert zum Zeitpunkt, als Stalin mit den Kulaken die Revolutionäre des Oktoberumsturzes liquidieren liess. Auch Rjazanov wurde als „Konterrevolutionär“ erschossen. Dutschke stand bereits in einer Tradition des marxistischen Freiheitsdenkens. Carsten Prien will ihn jedoch als einen Denker feiern, der den „westlichen Marxismus“ begründet hatte. Dutschke war viel zu bescheiden, um sich derartige Orden umzuhängen.
Mit Hansjürgen Krahl entwarf Rudi Dutschke ein „Organisationsreferat“ im September 1967. Eine wachsende ausserparlamentarische Opposition sollte über Wohngemeinschaften, Kommunen, Basisgruppen, Roten Zellen, Republikanische Clubs, Bewegungselementen, Initiativen, Kurse und Kampagnen für eine „Kritische Universität“ oder gegen die „Notstandsgesetze“, gegen „Springer“ und „gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam“ begründet werden. Die Vielfalt von Bedürfnisse und Interessen sollte aufgenommen werden. Sie durften nicht über die Befehlshierarchie oder bürokratische Routinen zerstört werden. Zusammengefasst wurde diese Opposition durch Demonstrationen und langfristigen Kampagnen. Die einzelnen Individuen sollten herauskommen aus dem Panzer eines aufgesetzten Charakters. Sie sollten sich selbst erziehen und ihre Talente und Fähigkeiten entdecken. Eine „Guerillataktik“ wurde entworfen, durch Gespräche, Selbsttherapien, Einsichten, Aussprachen und ein „Wirgefühl“ die Mentalitäten des Egoismus und der Karriere abzustreifen. Für Krahl und Dutschke war eindeutig, dass eine neue „Sittlichkeit“ entworfen werden musste, eine „neue Ethik der Solidarität“, die diese Prozesse einer Selbsterziehung begleiten würden. Die Soziologen Ute und Erwin K. Scheuch und Hemut Schelsky sprachen deshalb von den „Wiedertäufern der Wohlstandsgesellschaft“ und von einer neuen „Priesterherrschaft“. Nach ihrer Auffassung blieb diese neue Opposition befangen in einem religiösen Kreuzzug gegen die moderne Gesellschaft.
Die Kitiker sprachen eine Grundschwäche der Rebellen an. Falls sich Demagogen, Heilsbringer, Wundertäter oder „korrupte Schweine“ in dieser „Bewegung“ ausbreiten konnten, war sie verloren. Der analytische Ansatz von Herbert Marcuse, Sigmund Freud und Erich Fromm sollte alle Anklänge einer religiösen Entfremdung entschlüsseln und auflösen, waren Kahl und Dutschke überzeugt. An temporäre Führer wurde gedacht, um das „Charisma“ der Ideengeber und „Führer“ zu unterlaufen und zu relativieren. Die „Provokationen“ sollten die Herrschenden und zugleich die eigenen Leute vorführen und zur Besinnung bringen. An Manöver- und Aktionskritik wurde gedacht, um herauszukommen aus dem „Sog“, feste Gruppen und Avantgarden zu bilden und an Heilsversprechen zu glauben.
Die Medien hielten sich nicht an diese Absprachen und führten „Dutschke“ und „Krahl“ als Kultstars und „Heilige“ vor. Die östlichen und westlichen Geheimdienste, Kommunisten, Konservative und Sozialdemokraten setzten alles daran, diese Opposition zu zerschlagen. Die vielen Gefolgsleute liessen sich über Parolen und Sprüche begeistern und sehnten sich nach festen Ordnungen und Zielen. Sie wollten „Führer“ bewundern und sich unterwerfen. Die politischen Rituale von Demonstration, Fahnen, Fackeln und Plakaten waren ihnen bedeutsam. Die Opposition wurde nach den Attentaten auf Dutschke und Krahl überrollt vom asiatischen Mummenschanz der Kulturrevolution, der roten Garden, des Stalin- und Maokultes oder der Parteilichkeit. Die engsten Freunde von Dutschke wechselten die Fronten, ballten die Fäuste und liessen sich als kommunistische Heroen feiern. Eine antiautoritäre Bewegung verkam zu den Kultszenen und Prozessionszügen der „asiatischen Despotie“. Die bürgerlichen Soziologen hatten ihren „richtigen Riecher“ bewiesen. Diesen Zusammenhang hätte Carsten Prien analysieren und darstellen müssen. Eine Organisation konnte nicht als Anstalt der Therapie genutzt werden. Die „Guerillaeinheiten“, kleine Gruppen, schufen zwar Freundschaft und Vertrauen, trotzdem waren sie nicht gefeit gegen das Machtgehabe, gegen den Machismo, gegen die Geltungssucht und gegen das Schwergewicht des bürgerlichen Lebens und der religiösen Sehnsucht nach „Geborgenheit“. Ob im linken oder rechten Milieu, stets gerieten neue Organisationen in die Strukturfallen der „Normalität“. Oft waren nicht einmal „Agenten“ nötig, den Keim der Spaltung oder des Machtwahns zu säen.
Der Linkskommunist Georg Lukacs diskutierte zu Beginn der zwanziger Jahre in der Zeitschrift „Kommunismus“ eine Offensivtheorie. In einem Aufsatz über „Lenin“ bemühte er sich, eine erste Theorie des „Leninismus“ zu konzipieren. Revolutionäre Minderheiten konnten die Mehrheit oder die Massen eines Volkes erreichen, passten sie den richtigen Zeitpunkt eines Putsches ab. Die herrschenden Eliten, die Spitzen einer „organisch gewachsenen Gesellschaft“, hatten im I. Weltkrieg vollkommen versagt und ihre Völker in Tod und Verderben gehetzt. Lenin begründete den Oktoberumsturz mit dem Versprechen, die Kriegsfront aufzulösen, Frieden zu schliessen mit den Mittelmächten, eine Landreform durchzuführen und den Völkern Russland das Selbstbestimmungsrecht zu geben. Banken und die Grundindustrie sollten den werktätigen Produzenten übergeben werden. Ein Aufstand fand das Wohlwollen der Massen, die nicht für sinnlose Ziele krepieren und die nicht den Hungertod sterben wollten. Der Verlust an Glaubwürdigkeit und Anstand entwaffnete die alten Eliten. Lenin nutzte die Chance, einen Kriegskommunismus zu errichten, der Europa und die Welt in Flammen setzen sollte. Bela Kun und Lukacs konnten ihren Putsch in Ungarn nicht wie Lenin in Russland zu einem neuen System „transformieren“.
Diese „Offensivtheorie“ interessierte Dutschke, weil er herausfinden wollte, ob nicht auch die sechziger Jahre einen neuen Abschnitt der Geschichte signalisierten. Lukacs hatte im Lenin’schen Sinn den „Kurzschluss“ einer Gesellschaft interpretiert, die durch einen imperialistischen Krieg und durch Massenstreiks aus der Bahn geriet. Eine neue Epoche kündigte sich an. Die geschichtslosen Massen gerieten als Soldaten, Bauern, Kleinbürger und „Werktätige“ in den Strudel der Ereignisse und nahmen Abstand vom Glauben an die alten Werte. Jetzt war die Zeit für revolutionäre Minoritäten gekommen, ihre Zeichen zu setzen. Für Lukacs bildeten die russische Revolution und der Kriegskommunismus ein Signal, die alte Welt aus den Angeln zu heben.
Das „neue Russland“ wurde von ihm als „Diktatur“ und als Macht angesehen, die den internationalen Bürgerkrieg steuern würde. Deshalb setzte er auf das bolschewistische Prinzip von Organisation, Staat und Revolution. Bereits in seiner Schrift gegen Moses Hess, 1926 im Gründbergarchiv veröffentlicht, distanzierte er sich von einem Denken, das die Realpolitik des revolutionären Staates nicht beachtete und einen idealen Sozialismus anstrebte. Eine „idealistische Dialektik“ berief sich auf utopische Ziele und riskierte Krieg und Verderben, achtete sie nicht auf die militärische Stärke des Gegners. Lukacs beschrieb mit Hess den „jüdischen Bolschewismus“ um Leo Trotzki und den etatistischen Zionismus um Theodor Herzl. Die „Juden“ als Volk und Intelligenz wurden gewarnt, sich gegen die russische Revolutionsmacht zu stellen und mit der Kritik deren Substanz zu gefährden. Lukacs zeigte sich bereits zu diesem Zeitpunkt als Parteigänger des Stalin’schen Sonderweges der russischen Diktatur.
Dutschke liess sich aus anderen Gründen von der „Offensivtheorie“ begeistern. In der spätkapitalistischen Gesellschaft unterlagen die „produktiven Arbeiter“ und die bürgerlichen Schichten dem Druck der Zentralisation von Wirtschaft und Staat. Sie wurden ersetzt durch Hilfsarbeit, Automaten oder durch die Masse der Angestellten in Betrieb und Verwaltung. Ein derartiger „Übergang“ erinnerte an die Phasen der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, die die vorkapitalistischen Stände und Völkerschaften auflösten und mitrissenn in einen Prozess der „Proletarisierung“. Jetzt war die „bürgerliche Gesellschaft“ in die Situation ihres Zerfalls geraten. Die Arbeiter, Ingenieure und Manager gerieten in eine Minderheit und wurden überwunden durch städtische „Massen“, die in der „Sozialarbeit“, in den „öffentlichen Diensten“, in den Sektoren des „Handels“, der „Bildung“, der „Sicherheit“, des „Militärs“ und der „Finanzen“ Anstellung fanden. Daneben gab es die Masse der „Arbeitslosen“, der „perspektivlosen Jugend“, der „Kranken“ und der „Alten“. Alle diese „Funktionen“ und „Tätigkeiten“ verloren ihren Eigenwert und ihr Bewusstsein, denn sie wurden als Massen „inszeniert“ und als Zuschauer, Publikum, Käufer, Konsumenten nivelliert und vorgeführt. Die Medien und die Reklame übernahmen die Aufgabe, diese Massen zu entsubjektivieren und sie mit den Warenzeichen einer Konsumgesellschaft zu versehen. Die Herrschaftseliten aus Wirtschaft und Politik konnten diese „Maulaffen“ gut manipulieren und für ihre Zwecke instrumentalisieren.
Allerdings entstand an den Universitäten und Hochschulen eine „Zwischenschicht“, die als „Studenten“ Einsichten und Übersichten gewannen und die zugleich den „Protest“ gegen der Zustand der „sozialen Lethargie“ formulieren konnten. Sie konnten sich auf einen Streit mit den Herrschaftseliten in bestimmten Situationen einlassen. Wirtschaftskrisen, Katastrophen, Kriegsgefahr, Epedemien, Kriminalität, wachsendes Chaos schufen die gesellschaftlichen „Kurzschlüsse“, die von der revolutionären Intelligenz ausgenutzt werden konnten, um aufzuklären und die Grundlagen für eine Redikalopposition zu schaffen. Diese „Intelligenz“ und die „strukturellen Arbeitslosen“ erlangten nach Dutschke Subjektcharakter, wenn sie gezielt die sozialen Widersprüche thematisierten. Die „Sittlichkeit“ des Protests musste nicht nur auf die individuelle Emanzipation achten, sie musste in den siebziger Jahren auf die Zerstörung von Mensch und Natur durch die Industrie, durch Atomreaktoren, durch die Abgase, Epedemien und durch die Pestizide eingehen. Der Mensch kämpfte um sein Überleben in einer bedrohten Umwelt. Die sittliche Idee erlangte durch diese Hinweise existenzielle Züge. Mit diesem Bewusstsein machte Dutschke sich auf den Weg, mit vielen anderen eine „grüne Partei“ aus der Taufe zu heben.
Wiederum kam er mit falschen Leuten zusammen. Die Desparados des Häuserkampfes achteten auf ihr Fortkommen. Sie gaben den Herrschenden kund, dass sie für gutes Geld alles machen würden. Sie unterstützten sogar den amerikanischen Krieg im Kosovo. Die Marxisten – Leninisten suchten einen Ruhepol und ein gutes Salär, denn das Abenteuer der Kulte und Aufzüge hatte Kraft gekostet. Die grell geschminkten, bunten Damen brüllten nach Gleichberechtigung, meinten jedoch ihre Anstellung in Partei, Wirtschaft und Verwaltung. Die „grüne Idee“ löste sich schnell auf oder wurde in den verschiedenen Koalitionen verramscht. Dutschke starb einsam in einer Badewanne an einem epileptiechen Anfall. Es wurde nicht einmal untersucht, ob dieser Unfall durch Tabletten oder Injektionen verursacht wurde. Als ein „Priester“ und „Philosoph“, als „ehrliche Haut“ mit einer „charismatischen Aura“ hätte er jederzeit die Radikalopposition erneuern können. Carsten Prien kommt das Verdienst zu, den „ganzen Dutschke“ vorzustellen. Seine Erbschaft könnte jetzt erkannt und im Widerstand erfüllt werden. Das freut den alten Kampfgefährten Rabehl.