Rudi Dutschke auf sechs CDs
Winfried Wolf
Dem Ousia-Lesekreis-Verlag kommt das Verdienst zu, sich um das Vermächtnis von Rudi Dutschke – und damit um das Vermächtnis der authentischen 1968er Revolte von zehntausenden vor allem jungen Menschen – mit verschiedenen Publikationen verdient gemacht zu haben. Nun gibt es seit einigen Wochen mit dem Titel „Die Stimme der Revolution“ eine Box und sechs CDs (darunter eine MP3 CD) – so gut wie alles O-Ton Rudi Dutschke. Es handelt sich um öffentliche Reden von Dutschke beziehungsweise um Interviews mit ihm. Die Qualität der Aufnahmen ist erstaunlich gut; die Aufbereitung mit zwei Booklets hoch-professionell – vieles, was heute kaum noch bekannt ist, gut erläuternd.
Die Revolte, für die Rudi Dutschke ohne Zweifel das Gesicht und der Sprecher war, fand zwischen 1965 und 1968 statt. Sie ist für Westdeutschland und auch für die heutige Bundesrepublik Deutschland prägend. Da Dutschke als ehemaliger DDR-Bürger (er ging 1961 in den Westen) bis zu seinem Tod am 24. Dezember 1979 eine positive Sicht auf eine Wiedervereinigung auch für eine radikal-linke Politik für elementar hielt, sollte er auch für linke Ex-DDR-Bürgerinnen und Bürger von großem Interesse sein. An einer Stelle nennt er die DDR sogar als „Vorbild“ – in dem dialektischen Sinn, dass ihm hier die Erkenntnis vermittelt worden sei, „welche Möglichkeiten verspielt werden können“.
Vier Aspekte erwiesen sich für mich beim Hören als lehrreich.
Da sind zunächst die Worte. Dutschkes Sprache ist von für Linke heute ungewohnten Begriffen geprägt – wie „Reich der Freiheit“, „die Börse bewahren“ (im Sinne von: die kapitalistischen Verhältnisse stabilisieren), „Bündnis zwischen den Leidenden (in der Dritten Welt) und den im Überfluss, aber unter leidhaften Bedingungen des Produktionsprozesses Lebenden“, die SPD als „konsumfaschistische Partei“. Dutschke bewegt sich damit – anders, als oft behauptet – weit entfernt von den Sprechblasen der Politbürokraten. Erst in diesem Zusammenhang gewinnt sein authentisches Auftreten und seine Überzeugungskraft die überragende Bedeutung. Den Begriff „Suggestion“ meide ich bewusst; allzu oft wird er bei Dutschke-Charakterisierungen im Sinne von Demagogie eingesetzt. Zweitens springt das breite Spektrum linker Positionen, die Dutschkes Denken bestimmen, ins Auge. Sie sind gespeist von Karl Marx, Frantz Fanon, Leo Trotzki (dort die Theorie der permanenten Revolution als notwendige „Revolutionierung der Revolutionäre“), Ernst Bloch und – natürlich – Rosa Luxemburg. Drittens sind alle seine Reden geprägt von einem tief empfundenen und als absolut essentiell erachteten Internationalismus – der auch die Hoffnung auf eine Revolution in der Sowjetunion – und damit eine Revolution als Antwort auf die stalinistische Konterrevolution – mit einschließt. Schließlich ist Dutschkes Denken bestimmt von der tiefen Überzeugung, dass es eine „Produktivkraft der Revolte“ und des „aufrechten Gangs“ gibt. Letzteres ist eng verknüpft mit der sozialistischen Utopie als machbare Perspektive, für die Dutschke in unendlichen Schachtelsätzen wirbt, was als Ton-Dokument, so wie damals als Rede, gut verständlich ist.
Irritierend finde ich, dass weniger als ein Viertel der Dokumente aus der Zeit der eigentlichen Revolte (und vor dem Attentat auf Dutschke vom 11. April 1968) – und damit die deutliche Mehrheit der Dokumente aus den Jahren 1974 bis 1979 – stammt. Carsten Prien, maßgeblicher Herausgeber der Edition, Autor von Büchern über Dutschke und „Dutschkismus“, wird sich dabei etwas gedacht haben. In jedem Fall: sehr zu empfehlen!
Die Stimme der Revolution – Rudi Dutschke in zwölf Originalaufnahmen. 6 CDs
Ousia Lesekreis Verlag [ISBN 9783944570648]; zwei Booklets mit 128 Seiten, 35,90 EUR.
(erschienen in Lunapark21, Heft 55, Oktober 2021, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors)