in der Edition Stadtmuseum 'Berliner Subjekte“ ist der Briefwechsel 1978/79 zwischen Rudi Dutschke und Peter-Paul Zahl erschienen
„Es sind die Kämpfe nicht, sind die Pausen, die Laue ausspeien“ (Peter-Paul Zahl)
Jene beiden, die sich in der „tiefen Resignation des Jahres 1978“ beginnen, Briefe zu schreiben, gehören danach sicher nicht zu denen, die das Weltgericht ausspeien wird. Der eine, Peter-Paul Zahl (PPZ) saß damals in der JVA Werl. Der Drucker und Dichter war 1972 zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt worden wegen eines Plakates, das „Freiheit für alle Gefangenen“ forderte. Er war, von monatelangen Schikanen des Staatsschutzes zermürbt, untergetaucht und hatte seiner Verhaftung entfliehen wollen, „laufend und im Laufen schießend“, um seine Verfolger abzuschütteln. Dabei war ein Polizist von einer verirrten Kugel schwer verletzt worden: 4 Jahre wegen gefährlicher Körperverletzung. Dann änderten sich die Zeiten. Das erste Urteil wird annulliert, ein neues, exempelstatuierendes ergeht in der gleichen Sache. In einem „obrigkeitlichen Urteilssound“, wie der 'Spiegel' süffisant berichtete, gibt es nun „elf Jahre Gesinnungszuschlag“. Gegen die staatsanwaltlich behauptete „Tötungsabsicht“ hatte Zahl stets wiederholt, er habe niemanden verletzen wollen. Die ballistischen Untersuchungen gaben ihm Recht, nicht aber das Düsseldorfer Schwurgericht. PPZ kommentierte lakonisch, wer noch von Rechtsstaat spreche, trage einen „Kadaver auf der Zunge“. Jetzt waren es andere, die für ihn, den politischen Gefangenen, Freiheit forderten. Wie jener, der ihm aus Aarhus, seinem dänischen „Halb-Exil“, in das er nach mehreren Zwischenstationen in Folge des auf ihn verübten Attentats geflohen war, Briefe in die Einzelzelle schrieb: Rudi Dutschke. PPZ und Dutschke spiegeln in ihren Briefen sorgfältig die je eigene Biographie, die eigene Erfahrung in der des anderen. Diese Passagen lesen sich wie eine ingeniöse soziologische Anwendung von Freuds klassischem Aufsatz über „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“. Ein dichtes Geflecht an Themen, deren einzelne Fäden auch heute weniger entwirrt, denn schlicht abgerissen scheinen. Mit dem Hungerstreik, den PPZ zur Verbesserung der Haftbedingungen beginnt, ändert sich der Ton schlagartig. Aus vormaligen Reflexionen werden nun Sprechakte, die unmittelbar in das Geschehen eingreifen. Der Tiefpunkt ist erreicht als Zahl in einem Brief vom 13.7.1978 bei sich feststellen muss, dass „gewisse existenzielle Erfahrungen“ sich nicht mehr „vermitteln lassen“. Dutschke reagiert mit „großer Sorge“. Denn dieser Satz aus dem Munde eines sozialistischen Schriftstellers ist als sprachlicher Ausdruck für drohende Sprachlosigkeit offenkundig das Anzeichen einer existenziellen Krise.
In den nun in rascher Folge geschriebenen Briefen kämpft Dutschke um das Überleben Zahls. Dass er damit zugleich um die 'Seele' der antiautoritären Revolte kämpft, macht sein erst posthum veröffentlichter vergleichender Aufsatz zu Peter-Paul Zahl und Georg Büchner deutlich: „Widerstand im Übergang und mittendrin“. Literatur ist für Dutschke kein schmückendes Beiwerk. In der Tradition von Hegel und des 'großen Realismus' von Georg Lukács ist sie ihm vielmehr unverzichtbares Element der „Subjekt-Objekt-Dialektik“. Unter der Form der Anschauung erscheint in ihr das Einzelschicksal, gemäß den Einsichten in das gesellschaftlich Allgemeine, zum je historisch bedingten Besonderen gebildet, zum 'Typus'.
„Es ist bezeichnend“, schreibt Dutschke einmal selbstkritisch an PPZ, „dass die Literatur, Kunst usw. im Selbstverständnis der sechziger Jahre eine so geringe Rolle spielt.“
Denn ohne die seelenhafte „vermittelte Unmittelbarkeit“ (Georg Lukács) der Literatur zerfällt die Subjekt-Objekt-Dialektik des gesellschaftlichen Bewusstwerdungsprozesses in abstrakten Subjektivismus und Objektivismus, Spontaneismus und Dogmatismus.
Dem entgegen bescheinigt Dutschke PPZ in dessen ersten Roman „Von einem der auszog, Geld zu verdienen“ (1970), „glänzend das allgemein gesellschaftliche und zwischenmenschliche Problem der Widersprüche der Zwischenetappe“ dargestellt zu haben.
In seinem späteren Schelmen-Roman „Die Glücklichen“, in dem die Figuren nicht nur als Typen, sondern auch als bewusst subversiv Handelnde auftreten, sollte ihm dies auf einem noch höheren Niveau wieder gelingen. Doch zuvor musste PPZs regressiv wiedererwachter Subjektivismus niedergerungen werden. Sofort erkennt Dutschke in der vermeintlich nicht mitteilbaren „existenziellen Erfahrung“, das ursprüngliche Topos des Existenzialismus, für den die neue Linke wegen ihrer von Brüchen und Diskontinuitäten geprägten geschichtlichen Entstehungsbedingungen von je her in besonderer Weise anfällig war. Die abstrakte Freiheit des Existenzialismus aber gründet auf dem Tod und „die Bejahung des Todes als des absoluten Schicksals, als des einzigen Wohin ist für die heutige Gegenrevolution dasselbe, was für die alte der Trost des Jenseits war“ (Ernst Bloch). Die Zeilen die Dutschke in dieser Situation an Zahl schreibt, lassen sich nur mit Rosa Luxemburgs berühmten Gefängnisbriefen vergleichen, sie sind ein einzigartiges Dokument des sozialistischen Humanismus: „Das Gerücht vom Durststreik geht herum, das wäre die Schluß-Falle. Heidegger nistet sich damit ein: 'Ihr Sein ist ein Sein zum Tode, ein Sein der vorlaufenden Entschlossenheit' ... Nein, libertärer Sozialismus und existenzieller Nihilismus schließen einander aus ... Auch in einer solchen existenziellen Situation geht es um Klassenkampf, um gesellschaftliches und nicht individuelles Dasein und Denken ... Wenn Geschichte einen materialistischen Boden hat und die Kritik der Verhältnisse immer wieder unsere Aufgabe ist, dann zeigt sich Ich-Stärke darin, sich in den Geschichtsprozess einzuordnen, während Ich-Schwäche sich kaum in diesen Prozeß echt hineinkämpft ... Wie viele Kämpfe erscheinen post festum als sinnlos, und wie oft kommt Zweifel, dass da nichts umsonst ist in der Geschichte. Nein, nein, nein auch die Zufälle und irrationalen Abläufe der Geschichte sind nicht frei von inneren Gesetzmäßigkeiten, Niederlagen oder Siege sind dem untergeordnet bzw. neue Produktionsverhältnisse, Produktionsweisen, Lebensweisen etc. konstituieren die neue innere Gesetzmäßigkeit ... Nieder mit dem Tod, es lebe das Leben.“
Der Tod macht das Leben einmalig, das ist die Wahrheit des Existenzialismus, doch für einen christlichen Sozialisten wie Dutschke, hat das eigene Handeln in diesem Leben noch dazu eine die Einmaligkeit übersteigende Letztgültigkeit. Lau wird man dabei nicht: „Wenn das Wort Todsünde einen Sinn in diesem Leben hat, so bezieht sich der tatsächlich auf die Resignation.“
Eine Schande für die gesamte, ihrer eigenen Geschichte offenbar gleichgültig gegenüberstehenden Linken, ist es nur, dass dieser wichtige Briefwechsel, anderes als PPZ schon wenige Wochen nach Dutschkes tragischem Tod angeregt hatte, erst jetzt veröffentlicht wurde.
„Mut und Wut“: Rudi Dutschke und Peter-Paul Zahl - Briefwechsel 1978/79. Bearbeitet von Gretchen Dutschke, Christoph Ludszuweit und Peter-Paul Zahl. Mit einem einführenden Text von Gretchen Dutschke. Edition Stadtmuseum | Berliner Subjekte 344 Seiten, Abb., Hardcover, Fadenheftung 22,90 Euro